Kultur, Religion und GeschichteWelt: Odessa – Wiedergeburt einer pulsierenden Stadt

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Handrij
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Ukraine

Welt: Odessa – Wiedergeburt einer pulsierenden Stadt

Beitrag von Handrij »

Mal wieder ein Artikel aus der "Welt", die sich augenscheinlich sehr um die Ukraine bemüht. Leider schreibt der Autor wieder von "Potemkin" statt "Potjomkin" ....
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Von Marko Martin 28. Juli 2009, 17:51 Uhr

Einst war Odessa im Süden der Ukraine eine lebendige, weltoffene Hafenmetropole. Bei der Gründung Tel Avivs im Jahr 1909 stand die "Perle des Schwarzen Meers" sogar Pate. Doch unter den Sowjets wurde der früher so bunte Flickenteppich grau. Inzwischen aber beginnt die Stadt ganz langsam ihr Haupt zu erheben.

Natürlich: Die Treppe, die weiße Treppe aus dem Sergei-Eisenstein-Film „Panzerkreuzer Potemkin“. Dieser von Stufe zu Stufe zum Meer hinabrollende Kinderwagen, flankiert von zaristischen Soldaten, die sich darum jedoch nicht scheren – fatalistischen Blicks und abgestellt zur Niederschlagung des Matrosenaufstands unten im Hafen 1905. Odessa und diese Treppe, das gehört im kollektiven Kulturgedächtnis zusammen wie sonst wohl nur Rick's Café und „Casablanca“. Mit einem Unterschied: Die Darsteller des 1942 gedrehten Hollywood-Films lebten danach weiter ihr Schauspielerleben, von Eisensteins Odessaer Filmcrew des Jahres 1925 verschwand später so mancher ohne Wiederkehr in Stalins Gulag oder wurde Opfer der Schoah.

Und da ist sie dann: Die Potemkin-Treppe. Oben an ihrem Ende der Statuenkopf jenes Herzogs Richelieu (ein Nachfahre des berühmten Kardinals), der als Stadtgouverneur von 1803–1814 Zarin Katharinas Traum von einer weltzugewandten Hafenmetropole in Russlands Süden wahr gemacht hatte. Diese sagenhaften 192 zu ihm aufsteigenden Stufen, geteilt in zehn Treppenabsätze, die sich nach oben hin verjüngen! Das wirkliche Trompe d'Œil ist allerdings ganz anderer Art.

Was sich nämlich von oben – vom Standbild Richelieus aus, die akazienbestandene Promenade und das Nobelhotel „Londonskaja“ im Rücken – dem Betrachter bietet, ist keineswegs zuerst der Blick hinunter aufs Wasser, sondern auf den erfolgreich zu Beton gewordenen Plan, die Stadt vom Meer zu trennen. Ein klotziges Schiffsterminal ragt da ins Schwarze Meer hinaus, gekrönt von einem ebenso unförmigen, 16-stöckigen Hotelmonstrum. Nur Zufall, dass die sowjetischen Funktionäre und ihre in der Ukraine bis 2004 herrschenden postkommunistischen Nachfolger sich gerade diese Stelle für ihre Industrialisierungsfantasien ausgesucht hatten? Führte die berühmte Treppe ganz früher direkt zum Wasser, ist nun sichtbar, was das mehr als sieben Jahrzehnte herrschende Regime von einer Architektur hielt, die Offenheit mit der Lust an merkantilem Austausch verband: nichts. Für eine Art Stadtautobahn wurden der Treppe mehr als nur acht symbolische Stufen genommen – der urbane, womöglich dazu noch südlich-anarchisch geprägte Bürger sollte zum gehorsam abgerichteten Homo sovieticus werden. In der Tat ist aktenkundig, wie stark das Politbüro in Moskau dieser Stadt misstraute und welche Strategien sich die Funktionäre ausdachten, um den einst so bunten Flickenteppich grau zu machen.

Die etwas andere Show in Kiew

Die „Perle des Schwarzen Meers“, die einst immerhin Modell stand für die Gründung Tel Avivs 1909, ist seitdem nachhaltig paralysiert. Auch die Gesichter der hier vorbeihastenden Einheimischen verraten in ihrer eher bäuerlich denn städtisch anmutenden Homogenität nichts mehr von früherer ethnischer und kultureller Vermischung. Und doch war genau dies die Absicht der Stadtväter gewesen: ein Freihafen mit freien, risikofreudigen Menschen, die als Juden, Armenier, Russen, Griechen, Türken, Tataren oder Italiener ihre jeweilige Religion genauso unbehelligt ausüben sollten wie ihre wirtschaftlichen Aktivitäten zum Wohle der Stadt, gegründet 1794 und benannt nach Odysseus, dem fahrenden Helden. Trotzdem hatte es später blutige Pogrome gegeben, hatte die Oktoberrevolution Ober- und Mittelschicht vertrieben und die Kleinbürger proletarisiert. Im Zuge der nazideutschen und rumänischen Besetzung wurden dann 99.000 Juden im Holocaust ermordet. Nach dem Krieg kamen Chruschtschows und Breschnews willige Architekten – auch sie effektive Feinde einer offenen Stadt.

Und doch war es richtig, zuerst hierher, zu dieser tatsächlich potemkinsch gewordenen Treppe zu kommen, quasi ins Epizentrum einstiger Würde und späterer Zerstörung. Kann es ab jetzt nicht nur besser werden, leuchten vor diesem tristen Hintergrund die tapferen Versuche, der Stadt wieder ein städtisches Antlitz zu geben, nicht umso heller? Auf einmal ist da nämlich durchaus mehr als nur ein Hauch von Eleganz: das großzügige Halbrund der Piazza um die Richelieu-Statue und die Philharmonie, die 2007 wiedereröffnete Oper, ein reich verziertes Haus im Stil des Wiener Barock, das schon Tschaikowsky und Rimski-Korsakow hier eigene Werke dirigieren sah, während Fjodor Schaljapin 1899 euphorisch bekannt hatte: „Allein des Theaters wegen würde ich gern in Odessa bleiben.“

Die Zahl der Touristen ist überschaubar

Bleiben möchte man auch in diesem überschaubaren, sorgsam restaurierten Viertel zwischen Promenadenpavillons und der Deribasovskaya-Straße, die trotz des slawischen Klangs an den ersten Gouverneur erinnert, den Spanier José de Ribas: Ihm ist das schachbrettartige Straßenmuster zu verdanken. Wieder eingefügtes Katzenkopfpflaster, Cafés und eine an ein Miniatur-Mailand erinnernde glasdachbeschirmte Ladenpassage an der Ecke Preobrazhenskaya, vormals Straße der Roten Armee. Restaurierte orthodoxe Kathedralen, ein mit Vitrinen und Antikmöbeln ausgestattetes Literaturmuseum (wo einst der zionistische Theoretiker und Journalist Vladimir Jabotinsky seine erste Rede gehalten hatte), dazu das an Puschkins Odessaer Exil im Jahre 1823 erinnernde Haus in der Puschkinskaya Nummer 13. Unzählige vor dem Verfall gerettete Bürgerhäuser, an den Straßenecken ein paar Pferdedroschken für die überschaubare Anzahl auswärtiger Touristen.

Doch die überall beworbene Zigarettensorte trägt den protzigen Namen „Kapitalist“, und selbst im „Café Salieri“ mit seiner Crème brulée klebt ein Boxwettkämpfe präsentierender Flachbildschirm an der Decke, während sich über CD-Lautsprecher ein sanfter Joe Dassin verzweifelt bemüht, ein wenig Champs-Elysées-Flair zu verbreiten. Nannte sich die Stadt nicht einmal „Klein-Paris“ oder „Palmyra des Südens“, hatten Isaak Babels (Kleine-Leute-)„Geschichten aus Odessa“ nicht einst zum Ruhm der Schwarzmeermetropole beigetragen? Wo aber sind Odessas Chronisten heute? Iwan Bunin, der Literaturnobelpreisträger, von Lenin aus dem Land gejagt, Isaak Babel von Stalins Schergen erschossen – und seither diese kulturelle Lücke.

Dabei ist dem Französischen Boulevard längst sein Name zurückgegeben worden – zu Sowjetzeiten, als man die bunten, alten Holzhäuser verrotten ließ und sogenannte Neubauten hochzog, hieß er noch Proletariskij Boulevard. Gleichzeitig leuchtet im Zentrum wieder die alte Hauptsynagoge – bis 1993 war sie als Turnhalle benutzt worden. Der Rabbi kommt aus Israel, aber viele der hier Betenden und in der ersten Etage des Hauses über Bücher Gebeugten nennen sich stolz „Odessiten“. Seit der Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 haben Zehntausende Juden Odessa verlassen – in Richtung New York, Berlin und Tel Aviv. „Es sind beide Städte, die mir wichtig sind“, sagt einer der Männer, der hin- und herpendelt. „Wie könnte ich Odessa jemals vergessen? Sowieso erinnern in Tel Aviv schon die Straßennamen an unsere berühmtesten Odessiten: an Jabotinsky und an den Nationaldichter Chaim Nachman Bialik, an Leo Pinsker, den klugen Verfasser der ,Auto-Emancipation', oder an Dizengoff, den ersten Bürgermeister der Stadt. Sie alle kamen aus Odessa?“

"Der Schmetterling fliegt noch längst nicht wieder"

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