Ich sehe keinen zwingenden Zusammenhang zwischen "Nationalismus" und "Festigung einer Nation". Mir scheint, dass auch ein guter Teil der Diskussion hier daran scheitert, dass wir diese Begriffe für uns selbst unterschiedlich definieren. In Folge dessen diskutieren wir dann häufig aneinander vorbei, ohne dass uns das eigentlich bewusst ist. Mir scheint wichtig, dass wir mal etwas näher eingrenzen, was damit eigentlich gemeint ist. Ich fange einfach mal damit an, wie ich das eigentlich betrachte.Siggi hat geschrieben:Ich sehe in Nationalismus, Festigung einer Nation nichts erstrebenswertes - nirgendwo auf der Welt.
Was ist eigentlich eine "Nation"?
Ganz allgemein gesagt verstehe ich unter einer Nation eine Gemeinschaft von Menschen, die sich konstituiert durch einen gemeinsamen kulturellen Kontext. Die Definition in Wikipedia beginnt Nur eingeloggte Mitglieder sehen alle Links ...:
Ich klammere hier ganz bewusst aus, wie manche diesen Begriff noch weiter einengen. Ich halte das nicht für hilfreich. Interessant scheint mir hier zu sein, dass eine Nation im Sinne der o.g. Definition sich quasi von selbst über einen längeren Zeitraum hinweg formt und dass der Begriff "Staat" hier zunächst einmal nicht vorkommt. Ich finde, ein gutes Beispiel für den zweiten Punkt ist Deutschland, das ja erst im 19. Jh. zu einem gemeinsamen Staat kam. Dennoch war der Begriff der "deutschen Nation" hunderte Jahre vorher (also lange vor dem Entstehen der deutschen Nationalbewegung) existent, es gab also offensichtlich ein starkes verbindendes Element für Sachsen, Würtenberger, Holsteiner etc. Ein interessanter Aspekt ist das "quasi von selber". Es gibt ja Gemeinschaften, denen wir bewusst beitreten, z.B. den Freundeskreis, Ehegemeinschaft, Sportverein etc., aber auch welche, denen wir ohne aktives Zutun angehören, z.B. soziale Schicht oder Verwandtenkreis.Nation (vor dem 14. Jahrhundert ins Deutsche übernommen, von lat. natio, „Geburt, Herkunft, Volk“) bezeichnet größere Gruppen oder Kollektive von Menschen, denen gemeinsame kulturelle Merkmale wie Sprache, Tradition, Sitten, Gebräuche oder Abstammung zugeschrieben werden. Diese sprachlichen und kulturellen Eigenschaften und Merkmale werden dann als der nationale Charakter eines Volkes oder einer Volksgemeinschaft ausgemacht.[...]
Welchen Wert stellt eine "Nation" dar?
Die Frage, an der wir hier oft aneinandergeraten, ist, ob eine Nation etwas an sich Schützenswertes ist. Hier scheint mir erneut wichtig, den Begriff "Nation" erst einmal vom Begriff "Staat" getrennt zu halten, dazu schreibe ich unten noch etwas. Es gibt den "blöden" Spruch: "Blut ist dicker als Wasser". Hierin steckt, dass wir Menschen wie übrigens auch die Tiere eine Art angeborenen Trieb haben, die Interessen der eigenen Sippe über die Interessen wildfremder Artgenossen zu stellen. Das geht über diverse Ebenen. Ich denke, die meisten von uns wären zum Äußersten bereit, wenn die eigene Frau bzw. der eigene Mann und / oder die eigenen Kinder irgendwie in Gefahr wären. Das ganze geht dann abgestuft weiter mit den Eltern, weitere Verwandschaft, Freunde, Bekannte etc. Wir sind ja im Kern Herdentiere und wir verhalten uns auch wie solche. Anders als z.B. Wölfe haben wir nun aber auch noch eine Art von Vernunft, die uns erlaubt, darüber zu sinnieren, ob nicht eine gewisse Interessenabwägung notwendig ist - ist das Wohl eines Menschen, mit dem uns irgendetwas verbindet wirklich mehr wert als das eines wildfremden? Ich glaube, die meisten von uns haben sich darüber schon einmal irgendwie Gedanken gemacht und für sich eine irgendwie geartete Abwägung getroffen.
Irgendwo in diesem Spannungsfeld befindet sich nun die Gemeinschaft "Nation" - Menschen, die wir tendentiell etwas besser verstehen, weil sie tendentiell eine ähnliche Mentalität haben wie wir selber, weil sie mehr oder weniger die gleiche Sprache sprechen, weil uns ein geographischer und geschichtlicher Kontext verbindet. Und selbst wenn wir selber zu dem Schluss kommen sollten, dass wir emotional überhaupt keinen Bezug haben wollen zu Menschen, die wir nicht persönlich kennen (ich glaube nicht, dass es überhaupt möglich ist, so etwas konsequent durchzuhalten, aber sei es drum), dann müssen wir doch akzeptieren, dass es sich bei diesem Trieb, sich unter einer Gemeinsamkeit zu versammeln, um ein natürliches menschliches Bedürfnis handelt, das für andere Menschen Sicherheit und Geborgenheit bedeutet.
Wie stark die Bindung zu einer solchen Gemeinschaft ist, hängt sicher auch stark von äußeren Umständen ab. Z.B. bekommt die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse durch materiellen Druck eine besondere Bedeutung. Eine kulturelle Gemeinschaft wie die der "Nation" kann z.B. an Bedeutung gewinnen, wenn einem Kultur generell sehr wichtig ist, oder auch, wenn man viel mit Menschen anderer Kulturen zu tun hat und so viel bewusster wahrnimmt, wo Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind. Jeder mag da seine eigenen Gründe haben.
Welche Rolle spielt der Staatsbegriff?
Der Staat ist ja ganz allgemein gesagt eine Organisationsform für eine Gesellschaft, die mit einer gewissen Spezialisierung verbunden ist - eine irgendwie geartete Führung organisiert Dinge wie gemeinsam genutzte Infrastruktur, Rechtswesen, Durchsetzung des jeweiligen Rechtswesen bis hin zu Armeen.
Muss ein Staat deckungsgleich mit einer Nation sein? In der Geschichte gibt es alle möglichen Ausprägungen. Das antike Griechenland bestand z.B. aus diversen Kleinstaaten, die aber letztlich gemeinsam die griechische Nation formten. Dann gab es Reiche, die auf einer bestimmten Nationalität aufbauten, einige davon erweitert um hinzueroberte Gebiete (z.B. das alte Ägypten , Persien, oder in der neueren Gesichte Russland) und schließlich Vielvölkerstaaten wie das alte Rom. Der Wunsch nach kultureller Selbstbestimmung von Völkern taucht in der Geschichte unterschiedlich stark auf, hängt aber zu einem guten Teil davon ab, wie der Status eine Volkes im Staat war (so etwa waren die Vorteile der Zugehörigkeit zum römischen Reich für viele Völker so groß, dass sie kein Problem damit hatten, während versklavte und unterdrückte Völker sich meist eher wehrten).
Der Gedanke, dass jedes Volk möglichst genau durch einen Staat repräsentiert sein soll, ist relativ jung und griff im 19. Jh. rasant um sich. Hier kommen diverse Aspekte zusammen. In Deutschland empfand man die Aufsplitterung in die diversen kleinen Königreiche als künstlich und behindernd. In Vielvölkerstaaten wie z.B. der KuK-Monarchie, stellten einzelne Völker fest, dass sie zwar gewisse Entfaltungsmöglichkeiten hatten, es aber eben doch eine Elite gab, die meist durch eine einzelne Ethnie (in diesem Beispiel die österreichische) gestellt wurde und dadurch (a) die eigene Kultur nicht als gleichwertig empfunden wurde und (b) Aufstieg immer ein wenig mit Aufgabe der eigenen Identität zu tun hatte. Im Großen und Ganzen war das Entstehen des "Nationalismus"-Begriffes eine ziemlich inhomogene Mischung aus Theorie/Idealismus auf der einen Seite und Kampf um materielle Verbesserungen und Gleichberechtigung andererseits.
Im 20. Jh. bekam der Nationalismus eine stark ausgrenzende Ausprägung dazu, indem das Konzept hinzukamen, dass der Staat als Haus der Gemeinschaft "Nation" nur einer irgendwie definiertn engsten Gruppe dieser Gemeinschaft zu dienen dienen habe und allen, die aufgrund irgendwelcher Kriterien nicht dazugehörten, nicht mehr verpflichtet sei, bis hin, dass diese "Fremden" nicht nur aus dem Staat, sondern aus der Gesellschaft als solcher ausgeschlossen sein müssten. Heute wird aufgrund der Ereignisse im 20. Jh. der Begriff "Nationalismus" meist ausschließlich mit dieser Ausprägung identifiziert. Ich stelle aber in den Raum, dass es zumindest historisch auch durchaus die eher legitimen Wünsche gab, ein gleichberechtigtes Mitglied der Weltgemeinschaft zu sein oder aus der Zerstückelung eine Einigung zu erzielen. Das Sich-über-alle-anderen-Stellen, also das Streben nach einer Nationalstaatlichkeit, die gleichzeitig andere ausschließt, ist eher neu.
Schon zu viel geschrieben
Hier mache ich jetzt mal einen Schnitt. Dieses ellenlange Geschreibe ist mir wichtig, weil ich überhaupt erst einmal eine sprachliche Grundlage schaffen möchte für das, was ich so zum Thema "Ukraine" und "Nation" denke. Ich weiß nicht, ob meine Definitionsversuche nun bei einigen totalen Widerspruch hervorrufen, aber vielleicht können sie uns wenigstens ein bisschen helfen, Missverständnisse zu vermeiden.
Und jetzt setze ich mich daran, eine hoffentlich etwas kürzere Antwort zum zweiten Teil von Siggis Frage zu schreiben. Öfter mal "Reload" drücken