paracelsus hat geschrieben:meinst Du, erst wenn das russische Volk diffamiert wird setzt Russophobie ein?
Dort auf jeden Fall. Ob irgendwo davor, würde ich vom Einzelfall abhängig machen.
paracelsus hat geschrieben:Ich glaube eine gewisse Russophobie ist gerade in Deutschland tief verwurzelt. Ich will jetzt nicht in die Zeit vor und um den Zweiten Weltkrieg zurückspringen. Ich denke einfach nur an die Nachkriegszeit in einem geteilten Land. Da wurde der Kalte Krieg zelebriert und medial-propagandistisch ausgeschlachtet. Wie z. B. die Bedrohung aus dem Osten, der anstehende Weltuntergang, lieber tot als rot usw. .
Ich denke, dass gerade in der Nachkriegszeit viele Menschen in Deutschland sehr negative Erfahrungen mit Russen gemacht haben (dass dies letztlich die Folge des von Deutschland begonnenen Kriegs war, wird hier gern ausgeblendet). In dem Kontext würde ich da noch mitgehen. Ich denke, dass in der Zeit ab Gorbatschow in kurzer Zeit einige echt drastische Wechsel der Betrachtung Russlands in Deutschland stattfanden - ich denke nur daran, wie Ende der 80er Jahre Russland bzw. die Sowjetunion geradezu "in" war. Jelzin war m.E. auch mehr als nur Mitleid - man hatte die echte Hoffnung, dass Russland sich zu einem demokratischen Land entwickeln würde, mit dem man befreundet sein konnte und vor dem man keine Angst haben brauchte. Putin wurde am Anfang ja auch sehr positiv beurteilt. Das Ganze bröckelte so richtig erst mit dem zweiten Tschetschenien-Krieg und dem Khodorkovskyj-Prozess.
Ich finde schon, dass es da in der deutschen Wahrnehmung Russlands eine Menge Differenzierung gab (wenn auch getragen von sehr geringem Wissen über das Land). Insofern finde ich die Betrachtung, es gäbe bei uns eine tief verwurzelte Russophobie eigentlich nicht passend.
paracelsus hat geschrieben:Wenn ich nun eine Putin-Kritik loswerden will, was hat dann der Vergleich mit der SU, die Gleichsetzung mit der Stalin- oder Zarenzeit oder gar eine Gleichsetzung Putins mit Stalin mit dieser Kritik zu tun.
Ich glaube nix; es hat m.E. etwas mit einer immanenten oder latenten Russophobie zu tun.
Kann es sein, dass Du auf diese Annahme einer Russophobie vielleicht ein klein wenig fixiert bist? Ich meine das nicht böse, aber ich finde, dass Du mit der Interpretation etwas vorschnell bist.
Ich habe keineswegs die Stalin-, Zaren- und Putin-Zeit gleichgesetzt. Ich habe diese drei Herrschaftsphasen genannt, weil sie hier, in einem Ukraine-Forum, einfach häufig Punkte sind, wo sich Kritik an russischen Herrschern entzündet. Ob man daraus nun irgendeine Kontinuität konstruiert oder einfach nur relevante Ereignisse aus diesen jeweiligen Epochen separat betrachtet, spielt dabei m.E. eine untergeordnete Rolle.
Ich will das gern untermauern mit ein paar Dingen aus meiner Biographie. Ich bin im kalten Krieg groß geworden. Mein Vater stammt aus Ostdeutschland und hat als Kind und Heranwachsender die sowjetische Besatzung erlebt. Was ich von ihm darüber erfahren habe, enthielt sowohl Negatives (z.B. Plünderungen und Vergewaltigungen, von denen meine Familie zum Glück verschont blieb), als auch Positives (die Kinder gingen, neugierig wie sie waren, gern zu den Soldaten, die, kinderlieb wie sie waren, ihnen oft etwas Suppe oder Brot abgaben). Ich lernte dann an einer "progressiven" westdeutschen Schule Russisch als zweite Fremdsprache. Das war dann der Grund, dass ich mich als Student einem russischen Chor anschloss, über den ich eine Ukrainerin kennenlernte. Übrigens habe ich anfangs bei ihr Russischstunden genommen. Später beschloss ich, ihr zu Liebe Ukrainisch zu lernen, weil ich begriff, dass Russisch nicht die Sprache war, in der sie dachte und träumte.
Ich kann sagen, dass mein Russlandbild bis dahin weitgehend positiv geprägt war. Einen Bruch gab es bei mir persönlich 2004 zur Zeit der orangenen Revolution, an der wir in dem Land, in dem wir damals wohnten (nicht Ukraine oder Russland), in bescheidenen Rahmen und ohne Angst um körperliche Unversehrtheit, Studienplatz o.ä. teilnahmen. Das war das erste Mal, wo sich bei mir langsam die Ansicht entwickelte, dass Putin ein ganz schlimmer Finger sei.
Ich breche hier mal ab. Eigentlich liebe ich es nicht, Privates hier in der Öffentlichkeit auszubreiten. Ich habe das jetzt aber mal dennoch in einem kleinen Ausschnitt getan, weil ich einfach deutlich machen möchte, warum ich den Begriff "Russophobie" als Totschlagargument empfinde und warum es aus meiner Sicht niemanden hier gerecht wird, wenn man ausgehend von einer allgemeinen Betrachtung auf die Motive der Diskutanten schließt, warum sie zu ihren Anschauungen gekommen sind. Ich kenne ja ein paar Leute hier aus dem Forum persönlich, und das, was ich in Gesprächen von den einzelnen Leuten erfahren habe, bestätigt aus meiner Sicht das, was ich hier deutlich zu machen versuche: die Biographien sind z.T. sehr unterschiedlich, und Leute sind auf sehr unterschiedliche Weisen zu ihren Weltanschauungen gekommen.
Ich finde, es gibt hier so viel Interessantes zu erfahren, und wir sollten dafür einfach ein bisschen mehr offen sein, auch wenn uns manches, was wir von einigen Zeitgenossen lesen, nicht gefällt.
Es genügt nicht, nur keine Gedanken zu haben, man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken!