mbert hat geschrieben:Handrij hat geschrieben:Nation ist ein Begriff aus dem 19. Jahrhundert und in jeder Hinsicht ein Konstrukt.
Wenn jemand vor 200 Jahren Deutscher oder Deutschland gesagt hat, dann verstand er darunter etwas anderes als du heute.
Deutschland gibt es erst seit 1871.
Hmm, die Verwendung des Begriffs ist schon älter und keineswegs nur eine Ausprägung der im 19. Jh. begonnenen Welle nationaler Bewegungen. Die (etwas verquaste) Bezeichnung "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation" ist etwa schon seit dem 15. Jahrhundert in Benutzung. Ich halte den Begriff für keineswegs so künstlich. Die Frage ist m.E. die der Staatlichkeit. Die gilt es langfristig zu überwinden. Nur ist das ein komplizierter Prozess, da es ein Gleichgewicht zwischen den in einem solchen Gebilde enthaltenen Nationalitäten geben muss. Man sieht an der EU, dass das mitunter ziemlich kompliziert ist (nicht zuletzt, weil einige Mitglieder durchaus nicht bereit sind, staatliche Souveränität zugunsten der EU aufzugeben).
ok, da habe ich mich etwas ungenau ausgedrückt. Der Begriff ist in der Tat bereits älter. Die Verwendung des Wortes Nation im heutigen Sinne als Einheit von Staat und Bevölkerung - vor allem im deutschen Sprachraum - ist hingegen erst im 19. Jahrhundert entstanden. Auch wenn - beispielsweise bei der Sprache - in den heutigen Staatsgrenzen eine gewisse Übereinstimmung besteht - nicht zuletzt durch die Standardisierung der Medien - ist es etwas künstliches. Etwas, das erst geschaffen werden musste und sich jetzt als etwas "natürliches" darstellt. Ich verweise dabei auf die Traditionen aus der Religion, Arbeitsgewohnheiten und Lebensgewohnheiten usw. die sich erst einmal angleichen müssen. Mit dem heutigen Begriff der Nation wird dieses Werden dann gern verschleiert und der Prozess verleugnet. Es war eben schon immer da.
mbert hat geschrieben:
Handrij hat geschrieben:Die Ukraine, wie wir sie heute kennen, ist ein Ergebnis des 2. Weltkrieges und des nachfolgenden Zerfalls der Sowjetunion.
Das ist so auch nicht richtig. Der Begriff "Ukraine" ist bereits seit dem 16. Jahrhundert in Benutzung. Das ist besonders relevant, weil nach dem Anschluss an das Moskoviter Reich bereits abweichende Bezeichnungen verwendet wurden: "Ukraine" nannten es ihre Bewohner, "Kleinrussland" die Moskoviter. Interessant ist das, weil das (freilich in einem anderen Kontext als dem des 19. Jh.) durchaus den Schluss nahelegt, dass auch damals so etwas wie "Nationalität" eine Rolle gespielt haben muss.
Ich bezweifle aber, dass damals mit dem Begriff "Ukraine" etwas anderes als eine bestimmte Gegend benannt wurde. Zudem war der Bauer in erster Linie ein Bauer (sein Stand), dann ein Rechtgläubiger (sein Glaube) und dann kam wohl erst seine Herkunft (hinter Kiew, vor Kiew usw.). Schriftliche Dokumente dazu, was jemand auf die Frage antwortete, woher er komme, werden wohl nicht allzu verbreitet sein. Aber das hatten wir alles schon x-mal. Einen Konsens werden wir da wohl kaum finden.
Btw. in der Verfassung von Philip Orlik von 1710 spricht er von dem kleinrussischen Volk und dem Saporoger Heer.
Нехай залишиться на вікопомну славу і пам'ятку Війська Запорізького і всього народу малоросійського.
Weiter unten spricht er auch von der "unserer Heimat - Kleinrussland", die es mit Hilfe der Schweden vom Moskauer Joch zu befreien galt.
А після викорінення іновір'я з Вітчизни нашої з Військом Запорізьким і народом малоросійським добровільно піддався і перейшов під захист Московської держави з єдиною метою - тільки заради єдиновір'я православного. І новообраний гетьман, коли Господь-Бог могутній у битвах допоможе щасливою зброєю королю Його Милості Шведському звільнити Вітчизну нашу - Малу Росію від ярма московського, повинен буде насамперед піклуватися, щоб жодне інше іновір'я у Вітчизні нашій не було впроваджено.
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Ukraine wird zwar als Begriff verwendet, aber die von dir unterstellte klare Unterscheidung der Verwendung von kleinrussisch, Kleinrussland und Ukraine existierte nicht einmal bei der Elite. Beim einfachen Mushik war das IMHO schon gleich gar nicht der Fall.
mbert hat geschrieben:
Naja, die Frage ist ja zunächst, was vor 500 Jahren notwendig war, einen "Staat" zu bilden. Das Moskoviter Reich war ja zunächst auch nichts anderes als ein kleines Fürstentum, das sich dann stückweise Gebiete hinzueroberte. Ein Staat? Vielleicht gerade noch, weil es einen Chef gab. In der Ukraine gab es im 16. Jahrhundert ebenso ein zusammenhängendes Gebiet mit Verwaltungsstrukturen etc., welches zwar anders organisiert war als die Kollegen weiter nördlich, aber im Grunde genau so viel oder wenig ein Staat war.
Es ist also letztlich immer eine Definitionssache. Wenn jemand so vehement behauptet, die Ukraine habe nie vorher existiert, dann ist das letztlich nur nach einer sehr eng definierten und passend zurechtgebogenen Definition der Fall. Ich glaube, das ist hier nicht hilfreich.
Moskau war sicherlich kein Staat im heutigen Sinne. Ebensowenig das Russische Imperium, die Rzeczpospolita oder die Saporoger Sitsch. Steuerwesen, Gerichtsbarkeit, Grenzsicherung, Verwaltung usw. sind nur schwerlich mit heute vergleichbar.
Ich zudem davon aus, dass es wenig hilfreich ist, nach einer uralten Tradition für die Legitimation des Jetzt zu suchen. Es muss erst einmal ausreichen, dass man diesen Staat hat und wichtiger ist es sich darüber klar zu werden, was man denn eigentlich mit dieser Unabhängigkeit anstellen will. In vielen dieser Diskussionen fehlt das einfach. Mehr als "wir sind ein Teil Europas" und "die Russen wollen uns die Unabhängigkeit wegnehmen", kommt hier in der Ukraine zumeist nicht.
Die Sprachdebatte ist nur ein Teil dessen. Sie ist völlig überflüssig, da ein Staat ohne wirtschaftliche Grundlage früher oder später aufhört ein Staat zu sein und da spielt es keine Rolle, in welcher Sprache der Bankrott verkündet wird. Der Großteil der Bevölkerung nimmt diese Diskussion auch als das wahr, was es ist: Wahlkampf. Nach der Wahl interessiert es keinen mehr. Kolesnitschenko bekommt dabei in jedem Fall sein Direktmandat in Sewastopol.
mbert hat geschrieben:
Das selbe gilt für das Gebiet. Im Kern umfasst die heutige Ukraine das, was auch damals als "Ukraine" bezeichnet wurde.
Der Kern umfasst dann (im 16. Jahrhundert) aber nicht einmal die Hälfte der heutigen Ukraine ... so einfach ist das auch wieder nicht.
mbert hat geschrieben:
Was bei diesen "Formaldiskussionen" aus meiner Sicht immer völlig unter den Tisch gekehrt wird, ist, dass in den gut 300 Jahren nach dem endgültigen Zerfall des Kyiver Reichs Moskau und Ukraine sich ziemlich getrennt entwickeln, was der damaligen geopolitischen Lage (Besetzung durch Tartaren etc.) zu verdanken ist. Zu Khmelnetskys Zeiten unterschieden sich Lebensweisen und Sprache deutlich, und zwar ziemlich genau an der Grenze Ukraine/Russland abgegrenzt. Es ist ja egal, wie man es nennt, nur aus Gründen politischer Korrektheit hier den Nationsbegriff ausklammern zu wollen macht das Erklären dieser Umstände schwieriger, und es erweckt auch den Verdacht, dass man diese Unterschiede am liebsten unter den Tisch kehren möchte.
Die südlichen und östlichen Gebiete der heutigen Ukraine waren zu dieser Zeit im wesentlichen unbesiedelt und daher kannst du diese heutige Grenzziehung "Ukraine/Russland" nicht auf die damalige Zeit übertragen. In den Gebieten, die dann an die Rzeczpospolita fielen - und das finde ich wesentlicher - fand wirklich eine andere Entwicklung statt. Beispielsweise eben die zurecht in vielen Posts hervorgehobene Alphabetisierung der allgemeinen Bevölkerung oder der polonisierte Adel, der Schriften, wie obige Verfassung auf Latein verfassen konnte. Würdest du dann aber in diesem Zusammenhang von der Nation der Rzeczpospolita für die damaligen polnisch-litauischen Gebiete sprechen? Inwieweit waren die Lebensverhältnisse beispielsweise um Warschau herum mit denen um Kiew vergleichbar? Unterschied sich das Leben eines katholischen Bauerns im Nordwesten von dem eines orthodoxen im Südosten? Wenn ich mich recht entsinne gab es ziemlich viele Zeiten, in denen die Gebiete der heutigen Ukraine in Polen-Litauen Sonderrechte beispielsweise in Bezug auf die Religion genossen und immer wenn diese beschnitten wurden, dann wurde man sich des Unterschiedes bewusst. Böse Zungen behaupten aber auch, dass einige Kosakenaufstände durch Beschränkungen bei der Alkoholbrennerei hervorgerufen wurden.
Hätte sich der polnische Fürst als Teil einer Nation mit dem orthodoxen Bauern verstanden? Haben sich der orthodoxe Bauer und der orthodoxe Fürst aus dem Südosten als Teil einer Nation verstanden? Du verstehst, worauf ich hinaus will.
Heute versteht sich der deutsche Politiker, Wirtschaftsboss genauso wie der einfache Malocher als Teil einer Nation, im Sinne eines Volkes. Das ist für die Leute heute total selbstverständlich. Jemand muss eine Nation haben, sonst ist er kein Mensch.
Damals verstand sich der Adelige zu allererst als Adeliger und der Bauer eben auch als solcher. Vor dem stand noch die Religionszugehörigkeit. Bist du ein Rechtgläubiger? Ein Mensch hatte eine Religion.
Ich glaube aber nicht, dass sich Fürst Chmelnizkyj als Teil des ukrainischen oder kleinrussischen Volkes sah. (gibt es Schriften von ihm? ernst gemeinte Frage)
In dieser Verfassung von Orlik gibt es Ansätze für so ein Nations-Verständnis, mehr aber nicht. Inwieweit das im Adel verbreitet war, kann ich nicht beurteilen.
mbert hat geschrieben:
Und - hier muss ich Eurojoseph und Bogonag explizit rechtgeben - die russiche Politik der letzen paar-hundert Jahre hat leider wenig dafür getan, mich zu überzeugen, dass es eben diese Selbstbestimmung und Respekt vor anderen Kulturen ernst nimmt.
Wir reden aber doch von der ukrainischen Politik. Das stört mich ebenso. Kolesnitschenko und Kiwalow werden nicht als ukrainische Politiker wahrgenommen, sondern als Fremdkörper im ukrainischen Volk. Ich sehe diese "Diskussionen" und künstlichen Streitigkeiten als innenpolitisches Problem der Ukraine und nicht als die "Hand Moskaus". Moskau ist immer präsent, ohne Frage, da es der größte Nachbar ist und man noch riesige Phantomschmerzen hat, dennoch sollte man die Leute langsam mal als eigenständige Figuren wahrnehmen. So lächerlich sie im Einzelfall auch sein mögen.