Zum Thema "Russifizierungsgesetz" gab es im letzten Korrespondent (27/2012 - S. 26/27) eine Doppelseite mit Stimmen der Vertreter von Minderheitenvereinigungen (Rumänen, Russen, Krimtataren und Ungarn) in der Ukraine.
Interessant ist für mich in diesem Zusammenhang gewesen, dass diese jenes Gesetz nicht unbedingt als "Russifizierungsgesetz" wahrnehmen. Im Gegenteil: so äußert sich die Vertreterin der russischen Gemeinschaft von Sewastopol, eine gewisse Tatjana Jermakowa, äußerst abfällig über das Gesetz und meint, dass es nicht genug wäre. Ihr Verein wird weiter die 2. Amtssprache fordern. 71,6% der Einwohner von Sewastopol sind Russen.
Mustafa Cemilev, der Chef des Rates der Krimtataren und Abgeordneter von "Unsere Ukraine - Nationale Selbstverteidigung", lehnt das Gesetz hingegen ab. Zwar verhilft es dazu, wie er meint, weitere Schulen mit krimtatarischer Unterrichtung zu eröffnen, aber insgesamt würde Russisch bevorzugt werden und die Situation in den Behörden wird sich für die Krimtataren nicht verbessern. Nur 15 von 550 Schulen auf der Krim haben demnach Krimtatarisch als Unterrichtssprache, lediglich sieben haben Ukrainisch als Unterrichtssprache. Etwa 12% der Einwohner der Krim sind Krimtataren.
Miklós Kovács, Chef des Vereins für ungarische Kultur in den Transkarpaten, sieht das Gesetz generell nicht als schlecht an, beklagt, dass es keine Ungarn innerhalb der Behörden der Region gäbe, was sogar zu Sowjetzeiten besser gewesen sein soll, glaubt aber dennoch nicht an eine Veränderung der Situation durch das Gesetz. 12% der Einwohner der Transkarpaten sind Ungarn.
Ivan Popesku, Chef der Rumänenvereinigung der Ukraine und Abgeordneter der Partei der Regionen, hält die Situation in der Bukowina nicht für so schlecht. Rumänische Schulen und Kindergärten sind auch nach der Unabhängigkeit erhalten geblieben. In den Behörden arbeiten überall auch rumänischsprachige Leute. Das Gesetz wird seiner Meinung nach die Position aber stärken und ermöglicht auch die Einrichtung von rumänischsprachigen Schulklassen in Orten, die keine so hohe Zahl an Rumänen aufweisen. Es wird leichter für Rumänischsprachige sein in den öffentlichen Dienst zu kommen. Wenn das Gesetz in Kraft tritt würden auch Regelungen, wie die Ablegung von Test nur auf Ukrainisch, keine Chance mehr haben.
12,5% in der Oblast Tscherniwzi seien 2001 Rumänen gewesen.
mbert hat geschrieben:Handrij hat geschrieben:Ich zudem davon aus, dass es wenig hilfreich ist, nach einer uralten Tradition für die Legitimation des Jetzt zu suchen.
Naja, das tust Du aber auch, wenn Du darauf verweist, xyz sei eine neue Konstruktion, die erst im 19. Jh. entstanden sei.
Zweitens geht es zumindest mir durchaus nicht um "Legitimation". Ich stelle aber fest, dass es eine gewisse Eigenheit des ukrainischen Volkes gab, die 500 Jahre lang, trotz Fremdherrschaft durch Polen im Westen und Russland im Norden und trotz massiver Assimilierungspolitik überlebte (vergleiche hingegen mal, was von der weißrussischen Kultur übriggeblieben ist). Das sind Tatsachen, die man nicht wegdiskutieren kann.
Ich würde es anders sehen: diese von dir beschriebene Eigenheit des ukrainischen Volkes, wie wir sie jetzt sehen, hat sich durch die Geschichte erst entwickelt, ja überhaupt erst das ukrainische Volk. Deiner Äußerung entnehme ich, dass du von einem Urzustand ausgehst, der ein ukrainisches Volk bereits vor 500 Jahren imaginiert und das bezweifele ich. Im 16. Jahrhundert hast du eine Bevölkerung in der jetzigen Ukraine gehabt, die gänzlich anders zusammengesetzt war und anders, nicht nur im technischen Sinne, gelebt hat. Selbst wenn wir uns auf die orthodoxen Leute konzentrieren, ihre Sprachen, Sitten, Verhaltensweisen, so waren diese anders. Da Konstanten herauszufiltern, halte ich für äußerst abenteuerlich. Allein der Kirchenritus unterlag massiven Änderungen, was bei der Sprache anfängt und den Erklärungen zur Legitimation von Herrschaft aufhört.
mbert hat geschrieben:Ich denke, die Gründe, warum man für die Unabhängigkeit war, waren einfach zu verschieden. Im Osten und Süden war es sicher nicht so stark der Wunsch nach Respekt für die eigene Kultur und Lebensweise. Aber der Aspekt war eben auch da.
Hauptgrund für die Mehrheit der Leute war sicherlich, dass man sich eine Verbesserung der miesen wirtschaftlichen Lage erhofft hat und das ist nur bei einem Teil eingetroffen.
mbert hat geschrieben:
Die von Dir etwas despektierlich genannten Beispiele sind doch vollkommen richtig, da gibt es m.E. nichts ins Lächerliche zu ziehen. Die Westukraine ist bis heute kulturell ein Teil Europas, dies haben 60 Jahre Sowjetunion so gut wie nicht ändern können. Im Rest des Landes gibt es eine starke Bewegung (und Gegenbewegung) mit dem Ziel, nach Europa "zurückzukehren", was historisch vollkommen plausibel ist, da die Ukraine bis zum 16. Jh. de facto zu Europa gehörte.
Ich stelle nur immer wieder fest, dass je lauter die Leute schreien "ich bin Europa, ich will hier raus", um so eher fallen diese Leute durch unangenehmes Verhalten auf, fordern Sonderrechte für sich (ich bin Europäer), drängeln sich bei jeder Gelegenheit vor, kurz: verhalten sich so, wie die von ihnen so verabscheuten imaginierten Russen. Wenn es eine Tatsache ist, dass man kulturell zu Europa gehört, dann muss man es nicht ständig betonen. Es ist einfach so ersichtlich, da es selbstverständlich ist.
mbert hat geschrieben:
Handrij hat geschrieben:Ich glaube aber nicht, dass sich Fürst Chmelnizkyj als Teil des ukrainischen oder kleinrussischen Volkes sah. (gibt es Schriften von ihm? ernst gemeinte Frage)
In dieser Verfassung von Orlik gibt es Ansätze für so ein Nations-Verständnis, mehr aber nicht. Inwieweit das im Adel verbreitet war, kann ich nicht beurteilen.
Man kann es ganz gut an der Sprache erkennen. Für mich ist hier Taras Shevchenko immer ein gutes Beispiel. Er lebte im russischen Teil der Ukraine und in Russland selber, schrieb aber in einer Sprache, die dem heutigen Ukrainisch sehr ähnlich ist, und das, ohne dem polnischen Einfluss (dem ja russophile Wissenschaftler gern die Entstehung einer ukrainischen "Sprache" zugeschrieben wird) ausgesetzt gewesen zu sein. Im Gegenteil, er war ja bewusst bemüht, die Sprache des einfachen Volkes zu verwenden. Das ist für mich ein deutliches Zeichen, dass die "Kontur" einer gemeinsamen ukrainischen Kultur und Sprache kein künstliches Konstrukt ist, sondern schon vor der Teilung existiert und bis heute überlebt haben muss.
Hm, hier springst du plötzlich von der Wende des 17. zum 18. (Orlik) ins 19. Jahrhundert. Schewtschenko hat sehr dazu beigetragen den Gedanken, das es ein ukrainisches Volk gibt und sich dieses von den Polen und Russen/Moskowitern unterscheidet, zu entwickeln und zu verbreiten. Meines Erachtens nach- man möge mich berichtigen - hat er auch bewusst nur von Moskowitern und nicht von Russen gesprochen, da ihm bewusst war, dass sich die meisten Leute selbst noch als Russen ansahen. Dass es bereits vorher ein Bewusstsein oder die Ahnung eines ukrainischen Volkes als verbreitete Mehrheitsmeinung gab, bezweifle ich. Ebenso eine weite Verbreitung dieses Gedankenguts unter den ukrainischen Eliten.
Schewtschenko hat sicherlich sehr dazu beigetragen, dass es zu einer ukrainischen Standardsprache kam und zu einem in weiten Regionen akzeptierten Einheitskanon von Erzählungen. Ich bezweifle aber, dass Schewtschenko und andere (im 19. Jahrhundert) etwas zu Papier gebracht haben, was bereits da war. Ich gehe eher von einem wechselseitigen Prozess aus und dabei sollte man die Entwicklungen in Europa - Ukraine=Europa - nicht unterschätzen. Schriften aus der Zeit der französischen Revolution oder auch später Sachen wie Fichtes "Reden an die deutsche Nation" sind sicher auch im zaristischen Russland gelesen und deren Ideen - Nation, Nationalstaat - verbreitet worden.
stefko hat geschrieben:Ich finde diese Fixierung auf das 19. Jhdt im Bezug auf den Begriff Nation immer etwas verwirrend. Die Darstellung des 19 Jhdt als die Quelle des Nationalismus ist etwas sehr simplifizierend. Ich glaube, die entscheidende Entwicklung im 19 Jhdt ist der Machtverlust der absolutistischen Herrscher. Dies führt dazu, dass man sich mehr Gedanken darüber machen muss, von wem die Macht ausgeht und wer der Staat ist, dem man gegenüber loyal zu sein hat.
Sicher, da gehe ich mit dir konform. Nationalismus ist letztendlich nichts anderes als eine neue Legitimationsideologie für Herrschaft.
stefko hat geschrieben:
Das heisst aber nicht, dass Volk, ethnische Zugehörigkeiten, etc. nicht schon Jahrhunderte davor von grosser Bedeutung waren. Vielleicht sogar von größerer Bedeutung als im 19 Jhdt. da viele Recht an Volkszugehörigkeit geknüpft waren. Ein Beispiel dafür sind die Namen einiger alter Straßen in Lemberg.
Die ethnische Zugehörigkeit hat sich aber vornehmlich über die religiöse bestimmt, woran wiederum Rechte geknüpft waren (Juden vs. Christen) und da hat sich etwas gewaltig geändert. Das meine ich mit "dem damaligen Verständnis von Volk/Ethnie".
Dein Beispiel der Straßennamen in Lwiw bestätigt meine These da nur, siehe hier:
Уперше назву вулиці — Руська — зафіксовано 1472 року. Раніше, з 1414 року це була вулиця Соляників (лат. Salsatorum platea), оскільки її мешканці торгували сіллю з копалень солі у Дрогобичі та Долині. Після того, як остаточно сформувалася руська етно-релігійна громада, вулиця стала називатися Руською (етнонім «українці» почав набувати поширення в русинській (руській) спільноті починаючи з середини ХІХ сторіччя). Вулиця довший час залишалась у Львові центром українського православ'я та культури, оскільки конфесійна приналежність до початку ХХ століття у значній мірі означала етнічну приналежність.
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Vielleicht noch einmal, ich negiere nicht, dass es früher eine Vorstellung von Volk/Ethnie gab, doch finde ich, dass die Kriterien für die Zugehörigkeit einem Wandel unterliegen, also das Verständnis von Volk insgesamt. Insbesondere an der Ukraine sieht man es doch gewaltig. Durch diese Veränderlichkeit wird aber auch sichtbar, dass Volk eine recht willkürliche Konstruktion ist, was erst recht auf den Begriff Nation zutrifft.
mbert hat geschrieben:Was ich hier immer wieder beobachte, ist eine ideologische Haltung, nach der der Begriff "Nation" recht schnell mit "SS-Runen und Stahlhelm" (wie Minuteman es so schön formulierte) verbunden ist.
Was dabei herauskommt, ist bei manchen (so wie ich es beobachte, ganz subjektiv betrachtet) eine latente Ablehnung des Ukrainischen die Folge (wer ukrainisch spricht und Wyschywanka trägt, ist schon rechts).
Dass der Begriff "Nation" mit "SS-Runen und Stahlhelm" assoziiert wird, ergibt sich aus der Tatsache, dass die so friedlichen integrativen Nationalisten - oder nennen wir sie einfach Patrioten - im Zweifelsfall, also wenn es beispielsweise an ihren Geldbeute, die heilige Geschichte oder die "Werte der Nation" geht, sehr schnell wieder ihren Stahlhelm aufsetzen und sich gewissermaßen zu "wehrhaften Patrioten=Nationalisten" wandeln.
mbert hat geschrieben:Was mir dabei Sorgen macht, ist, dass mit einer bewusst "antinationalen" Haltung man Gefahr läuft, durch die einseitige Parteinahme gegen die ukrainische nationale Bewegung implizit einen anderen Nationalismus zu fördern - sowohl radikalrussische Gruppierungen in der Ukraine als auch die neo-imperialen Träume Moskau, man dadurch also plötzlich auch zum Unterstützung von Nationalismus werden kann, nur eben der Gegenseite.
Ich glaube nicht, dass eine Diskussion in einem deutschsprachigen Forum irgendeine Auswirkung auf die Politik nationalistischer Gruppierungen in der Ukraine oder die Politik der russischen Regierung hat.
mbert hat geschrieben:Ja, ich glaube, das geht einigen hier auch so, nur gibt ja auch das, was allein schon in UA stattfindet, eben reichlich Gründe zum Stirnrunzeln.
Tatsächlich habe ich aber auch den Eindruck, dass Zar Wowa schon ein bisschen Unruhe spürt, denn so viel Gegenwind wie jetzt hatte er, wie mir scheint, seine ganze bisherige Amtszeit nicht. Das Ganze ist unangenehm für die Russen und hat leider auch so manch eine "Nebenwirkung" in UA.
Es ist zu erwarten, dass man versucht innere Widersprüche innerhalb von Russland weiter über außenpolitische Offensiven irgendwie glattzubügeln. Die Ukraine mit ihrer als uneinsichtig, gar widerspenstig empfundenen Elite böte sich da an.
Doch, wie das Beispiel Weißrussland zeigt, geht es nicht einmal um die komplette Übernahme des Ladens. Wichtig sind die Schlüsselunternehmen, das Elend sollen die "Landesführer" schön selbst verwalten. Die jetzigen Machthaber in Russland sehe ich ebenso, wie die in der Ukraine, vor allem als Businessleute. Es geht denen trotz aller neoimperialen Rhetorik vornehmlich um Geschäfte, um Business, darum möglichst viel Kohle rauszuziehen. Den Leuten würde es nicht im geringsten einfallen "sich für die Nation zu opfern". Der Nationalismus als Ideologie für die "kleinen Leute" hält den Laden lediglich zusammen und soll dabei helfen Widersprüche innerhalb des Landes auszugleichen. "Auch wenn es mir dreckig geht, so bin ich wenigstens Teil einer großartigen Nation und die Nationalität kann man mir im Gegensatz zu anderen Dingen nicht nehmen"